Als wir in Soglio ankommen, ist dichter Nebel, und das ist wunderschön. Nur gerade die zunächst stehenden Häuser sind klar zu sehen. Bei den andern verschwimmen die Konturen der Steinquader. Die Dächer lösen sich auf. Es ist wie in einem surrealistischen Film. Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, scheinen sich langsamer zu bewegen.
Wir haben eine Reise durch die Schweiz hinter uns. Sechs Stunden Fahrt mit Bahn und Postauto. Bern. Zürich. St. Moritz. Oberengadin und Maloja. Und wir fragen uns mehr als einmal, ob eine so lange Anreise nicht etwas übertrieben sei. Doch dann schraubt sich das Postauto hinauf nach Soglio, vorbei an den entzückenden kleinen Ställen, in denen früher die Kastanien getrocknet und gelagert wurden. Hinauf zum Dorf.
Palazzo Salis in Soglio: Steinerner Palast im Nebel
Das Postauto hält beim Dorfeingang, und wir gehen auf nebelnassen Pflastersteinen durch die Gassen dieses eng gebauten Dorfes, wo die Bewohner mit viel Phantasie, mit Treppen und Übergängen ihr Häuser und Ställe miteinander verbunden haben. Am Hauptplatz stehen die Palazzi und Nebengebäude derer von Salis, einer Familie, die lange Zeit die Geschicke des Bergell und des Kantons Graubünden mitbestimmte. Die Häuser der Salis sind grosszügiger, eleganter gebaut als die anderen, und das besterhaltene unter ihnen ist für eine Nacht unser Hotel. Während vierhundert Jahren sind Menschen hier über Böden und Treppen aus Granit gegangen. Das hat die Ecken und Kanten etwas abgeschliffen, doch es könnten nochmals 400 oder 4000 oder noch mehr Jahre vergehen, ohne dass der Stein Schaden nähme.
Wir essen (besser vielleicht: wir speisen) im ebenerdigen Saal, unter einem weiss gekalkten Kreuzgewölbe, neben einem Cheminée, deren Feuer den herbstlich kühlen Raum ein wenig heizt und ihm warme Farbe abgibt. Das Essen – zu einer kunstvollen Pyramide aufbauten Pfifferlinge auf Steinpilzravioli – wärmt auch Magen und Seele. So, dass wir wohl auch ohne die mit Arvenspänen gefüllten Kissen gut geschlafen hätten, die im Palazzo Salis zur Grundausstattung jedes Zimmers gehören.
Am Morgen dann bleibt uns etwas – viel zu wenig – Zeit, um den prächtigen Garten zu besuchen. Wir nehmen uns vor, wiederzukommen, im Sommer einmal, um zwischen Buchsbaumhecken zu essen, vielleicht sogar unter dem Mammutbaum, der dort steht.
Zwischen Soglio und Poschiavo liegen zwei Pässe. Der Maloja bringt uns in das wohl schönste Hochtal der Alpen zurück, und die Rhätische Bahn führt uns über den Berninapass. Die Haltestellen tragen berühmte Namen des Engadiner Tourismus: Pontresina. Morteratsch. Diavolezza. Lagalp. Die Sträucher von Alpenrose und Preiselbeere sind herbstlich eingefärbt, und das Gras dazwischen ist braun und hart.
Auf der Südrampe des Passes bewundern wir die Leistung der Ingenieure und Bauarbeiter, die vor 110 Jahren das Bahntrassee elegant in die Landschaft eingepasst haben. Neben und unter uns ist die Acqua da Pilo, ein kleiner Bergbach, dessen Wasser über die Adda und den Po in die Adria fliesst. Einmal mehr wird mir bewusst, wie wichtig Pässe und die Südtäler für den Kanton Graubünden sind. Sie sorgen für frischen Wind, für einen befruchtenden Austausch zwischen Süd und Nord, Italien und der Schweiz.
Hotel Albrici in Poschiavo: Ein Hauch Italien
Am Mittag kommen wir in Poschiavo an und setzen uns an einen der vielen Tische vor dem Hotel Albrici. Neben uns plaudern zwei Kondukteusen der Rhätischen Bahn, die einen früheren Zug nach Poschiavo begleitet haben. Sie kommen mir vor wie Pilotinnen, die sich in einer fremden Destination ausruhen, bevor sie wieder in den Heimatflughafen zurückfliegen, und ja, bestätigten sie, so fühle es sich an, dieses gemütliche Mittagessen in der spätsommerlichen Wärme, auf dieser Plaza, die so sehr an Italien erinnert.
Das heutige Hotel Albrici wurde im 17.Jahrhundert von einem Poschiaviner Bürgermeister erbaut und später von einem deutschen Baron per Heirat. Baron de Bassus war Mitglied des Ordens der Illuminati und machte das Haus zu einem Zentrum des fortschrittlichen Denkens. In seiner Druckerei veröffentlichte er kritische Schriften gegen Kirche und Papst, und er gab hier, weitab von den kulturellen Zentren jener Zeit, die erste italienische Übersetzung von Goethes Werther heraus. Während die junge Frau von der Reception uns das erzählt, schauen Männer und Frauen, die vor Jahrhunderten gemalt wurden, aus den Rahmen ihrer Bilder etwas gar streng auf uns herunter.
Ein gemütlicher Spaziergang führt uns um den kleinen See (und einem kurzen Bad) und wieder zurück ins Dorf, in dem überraschend viele herrschaftliche Häuser stehen. Sie wurden im 19.Jahrhundert von Rückkehrern gebaut, die in den Grossstädten Europas sie als Cafétiers und Zuckerbäcker reich geworden waren. Den Apéro nehmen wir draussen auf der ruhigen und kühlen Piazza, und für das Abendessen wählen wir einen Tisch im gut besetzten Restaurant des Albrici. Wir bestellen - Herbst! Jagdzeit! In Graubünden! - einmal Hirschmedaillon, einmal Rehrack und diskutieren darüber, wer mit seiner Wahl nun das bessere Los gezogen habe. Nach dem Essen gehen wir nochmals hinaus und durch das Städtchen. Die meisten Häuser sind schon dunkel. Ihre Silhouetten stehen gross vor dem sternenbesetzten Himmel. Es ist ein schöner Abschluss eines schönen Tages.
Die Rhätische Bahn führt uns zurück ins Engadin, und im Postauto fahren wir von Zernez über den Ofenpass und ins Münstertal. Wir fahren am Rand des Nationalparks vorbei. Die schroffen Geröllhalden und die Wälder erinnern uns Landschaften in den Rocky Mountains. Weiter talauswärts fahren wir durch eine sorgfältig gepflegte Kulturlandschaft. Terrassierte Hänge, sauber gemähte Wiesen, weidendes Vieh, kleine Gersten- und Kartoffelfelder. Dazu Häuser, wie man sie aus dem Schellenursli kennt. Sie haben dicke Mauern, grosse Holztore. Die Hausecken und die trichterförmig eingeschnittenen Fensterlöcher sind mit Sgrafitti verziert.
Chasa de Capol: Das Ritterhaus in Sta.Maria
In der Chasa de Capol empfängt uns Ramun Schweizer. In seinem Fall scheint es mir angebracht, seinen Namen zu nennen, denn er ist Besitzer und Koch und Administrator und Hausherr in einem. Er ist die Chasa de Capol, die im 17.Jahrhundert von einem Verwalter des nahen Benediktinerinnenklosters in ihrer heutigen Form gebaut wurde. Ramuns Schweizers Vater, damals ein bekannter Musiker aus Basel, verliebte sich vor 70 Jahren nicht nur in das leerstehende Haus, sondern auch in eine Hoteliers Tochter aus dem Tal. Die beiden brachten Leben in die trostlos leeren Mauern. Sie sammelten die Möbel, welche die Bauern im Modernisierungstaumel verbrannten oder für ein Trinkgeld verkauften, und sie machten die Chasa zu einem privaten Treffpunkt für befreundete Kulturschaffende aus der Aussenwelt. Schliesslich machte das Ehepaar aus dem Haus für Gäste ein Gasthaus.
Heute ist Chasa de Capol so schnörkellos und roh geschliffen wie der Name. Nicht Palazzo, sondern Haus des Capol. Wer durch den Sulèr, den traditionellen Vorraum, in das Hotel kommt, lässt die neue Zeit hinter sich. Es riecht, wie es vor Generationen in allen Häusern roch: nach Rauch, nach Kalkverputz und nach Holz. In der Hotelküche im ersten Stock steht neben dem Gasrechaud ein traditioneller Holzherd, und an den Wänden hängen blank geputzte Kupferpfannen, auf denen der Hausherr jeden Tag kocht. Die Chasa de Capol ist das urtümlichste der drei Gasthäuser, die wir in den Südtälern Graubündens besuchten. Die Wände sind gekalkt, die Böden knarren, und die hölzernen Treppenstufen sind von vielen tausend Füssen glattgeschliffen. Alles ist alt, und ohne die schmeichelnde Eleganz, die man in anderen historischen Häusern findet. Ohne Spuren moderner Architektur. Der Rehpfeffer, den der Hausherr für uns kocht, erinnert mich an den Pfeffer, den meine Grossmutter für ihre zahlreiche Jägerfamilie jeweils kochte. Er ist schnörkellos und ehrlich und fein. Hier erlebe man "Zauberhaftes, ohne magische Pilze zu haben", notierte ein Fachmann ins Gästebuch: der LSD-Entdecker Albert Hofmann.
In unserem getäferten Zimmer riecht es nach Arve. Das Holz der Arve duftet auch Jahrzehnte nach der Verarbeitung und soll zu einem guten Schlaf verhelfen. Trotzdem wache ich In der Nacht einmal auf. Draussen, weit weg, bellt ein Hund. Ich höre in das Haus hinein. Das Knacken des Holzes, das sich abkühlt. Das leise Seufzen des Windes in den alten Fensterrahmen. Ich sehe, wie sich die Vorhänge bewegen. Und es hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich die verwaschenen Umrisse eines der vielen verstorbenen Besitzer durch unser Zimmer gehuscht wären. So ein Haus ist die Chasa de Capol an der Hauptstrasse von Sta. Maria da Müstair.
Post Skriptum:
Am Morgen fuhren wir in einer langen, langen Fahrt zurück in unsere rationale Welt bei Bern. Und wir wussten: wir waren zu schnell gereist. Wir hätten in jedem der Gasthäuser mindesten zwei Nächte einplanen müssen. Nicht nur wegen der Atmosphäre, der exzellenten Küche und der Geschichten, sondern auch wegen der Umgebung, von der wir gern noch mehr gesehen und erlebt hätten.